„Unausgesprochene Solidarität ist keine Solidarität
Mein Name ist Anne, meine Pronomen sind sie/ihr. Ich bin 43 Jahre alt und lebe mit meiner Frau und unserem fast zehnjährigen Sohn in Bad Godesberg. Ich liebe Schokolade und Kaffee. Manchmal habe ich Schwierigkeiten Ironie zu verstehen und ich mag es nicht, wenn Menschen mich umarmen möchten, die mich nicht vorher gefragt haben, ob ich damit einverstanden bin. Ich habe Angst vor großer Höhe, aber am allermeisten Angst habe ich vor unausgesprochener Solidarität.
Was das ist und warum es mir so große Angst macht, möchte ich gern erklären.
Am 26. April fanden in mehreren Städten Deutschlands Demonstrationen von verschiedenen Organisationen statt, die zum größten Teil – wenn nicht komplett – rechtsradikal oder rechtsextremistisch sind. So auch in Koblenz. Als ich von einer geplanten Gegendemonstration las, war mir erst kurz übel vor Angst, weil ich tatsächlich noch nie bewusst auf große Gruppen solcher Menschen getroffen bin. Dann wurde mir klar: Genau deshalb ist es wichtig, dass ich hingehe.
Ich habe #jetztinbonn mobilisiert und zu viert sind wir schließlich nach Koblenz zur Gegendemonstration gefahren. Einen Aufruf, sich uns bitte anzuschließen, habe ich auf verschiedenen Kanälen geteilt. Sei es via Instagram, in zwei WhatsApp- und mehreren Signalgruppen sowie im Status der beiden Apps. Ich habe auch mehrere Personen gezielt persönlich angesprochen. Und trotzdem: am Ende waren wir zu viert. Ich war ein bisschen traurig, verstehe aber natürlich, wenn es unverschiebbare Terminkollisionen gibt oder wenn Personen in Menschenmengen Panikattacken bekommen.
Was mich an diesem Tag in Angst und Schrecken versetzt hat, waren nicht die Nazis. Nicht deren Gegröle, nicht deren Plakate voller Hass und ekelhafter Forderungen.
Ich bin noch heute zutiefst getroffen und erschreckt von den Personen, die direkt neben einem großen Stand der AfD, an dem sich größere Gruppen offensichtlich sehr Rechter Personen aufhielten, in der Eisdiele saßen und seelenruhig die Gegendemonstration beobachteten während sie ihr Eis aßen. Welchen Grund dieser Welt kann es geben, sich an dieser Stelle NICHT zu positionieren?! Das bewegt mich bis heute.
Wenige Tage später war ich auf einer Kundgebung aus Anlass des Protesttags für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderung. Einen ausführlichen Bericht zur Veranstaltung findet ihr auf Instagram. Dort habe ich auch den Satz gehört, den ich als Überschrift für diesen Artikel gewählt habe: Unausgesprochene Solidarität ist keine Solidarität. Mir war vorher schon klar, dass ich nicht mit mehreren hundert Teilnehmenden rechnen konnte. Auch hier hatte ich im Vorfeld wieder versucht, Menschen dazu zu bringen, mich zu begleiten. Was soll ich sagen… Es war fast niemand da. Inklusive Organisator*innen vielleicht 50 Personen. Menschen mit Behinderung haben keine Lobby. Vielleicht nehme ich das ein bisschen zu persönlich, weil ich als neurodivergente, chronisch kranke Person mit einem Kind mit Trisomie 21 unmittelbar betroffen bin. Aber mal ehrlich: Wie kann es sein, dass fast allen Menschen ein großer Teil der Gesellschaft so völlig egal ist? Denn letztlich gibt es ganz schön viele Menschen mit Behinderung / chronischen Krankheiten in Deutschland.
Ich habe Angst vor unausgesprochene Solidarität. Wer tritt für mich oder mein Kind im Ernstfall ein? Wer steht an unserer Seite, wenn wir selber nicht (mehr) für unsere Rechte kämpfen können? Menschen mit Behinderung oder chronischen Krankheiten hilft es nicht, wenn alle nur denken „Jaaaa, echt schlimm, dass es in Werkstätten nicht mal Mindestlohn gibt!“ oder „Ist ja schon irgendwie unfair, wenn Rechte von chronisch kranken Personen nicht durchgesetzt werden können, weil Personal überall fehlt.“.
Ich habe Angst, von privilegierteren Personen allein gelassen zu werden. Weil sie nicht mit aufstehen, wenn Rechte von marginalisierten Gruppen verteidigt und erkämpft werden müssen.
Wisst ihr, ich verlange gar nicht, dass jede*r von euch in Zukunft zu jeder Veranstaltung geht, die sich bietet (das schaffe ich auch nicht). Aber bitte hört doch den Personen zu, die um Gehör ringen. Hört zu und lernt und seid ausgesprochen solidarisch. Positioniert und engagiert euch, wo immer ihr könnt.
Bitte überlegt wo ihr euch einbringen könnt. Wo ihr aktiv Dinge verändern könnt. Zum Beispiel, indem der Kollege, der immer wieder andere rassistisch beleidigt, das nicht mehr unkommentiert tun kann. Oder indem die offen transphobe Kollegin zu ihren Aussagen mehr als nur Schweigen zu hören bekommt.
Oder aber ihr seid superkrass und kommt ins Team von #jetztinbonn, damit wir uns gemeinsam für Demokratie und Menschlichkeit einsetzen können.
Am 23. Mai gibt es die Möglichkeit zu einem ersten Kennenlernen. Kommt zum „Offenen Treffen“ um 18:00 Uhr im Restaurant Godesburger (Moltkeplatz 2) in Godesberg.“
Dieser Beitrag ist der erste Gastbeitrag unserer Reihe „Gesicht zeigen für Demokratie“. Melde Dich gerne unter writeme@jetztinbonn.de, wenn auch du Dein Gesicht zeigen und einen Gastbeitrag einbringen möchtest.